Literaturnobelpreis 1920: Knut Hamsun

Literaturnobelpreis 1920: Knut Hamsun
Literaturnobelpreis 1920: Knut Hamsun
 
Der Norweger erhielt den Nobelpreis für sein monumentales Werk »Segen der Erde«.
 
 
Knut Hamsun (eigentlich Knut Pedersen), * Lom (Gudbrandstal) 4. 8. 1859, ✝ Grimstad (Aust-Agder) 19. 2. 1952; 1883-85 Wanderleben in Norwegen, 1886-88 in den USA, ab 1890 kann sich Hamsun als Autor von Romanen, Erzählungen, Essays, Dramen und Gedichten etablieren; Hamsun begrüßte die Besetzung Norwegens durch Deutschland; 1948 wurde er wegen Landesverrats verurteilt.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Im Fall des norwegischen Erzählers Knut Hamsun fiel der Schwedischen Akademie — wie so oft — die Entscheidung nicht leicht. Hamsuns literarischer Rang war zwar unbestritten, doch vermisste man hinter dem kraftvollen, unkonventionellen Griff seiner Erzählungen die idealistische Tendenz, das unzweideutige Eintreten für die Würde des Menschen und das Wohl der Gemeinschaft. In den gebrochenen Charakteren Hamsuns ebenso wie in seiner subjektivistischen Erzähltechnik schien jene zersetzende, anarchische Kraft wirksam zu sein, die für die so genannte »Dekadenzliteratur« des ausgehenden 19. Jahrhunderts charakteristisch war. Man fand einen Ausweg, indem man den Preis ausdrücklich nicht für Hamsuns Gesamtwerk, sondern ausschließlich für den 1917 veröffentlichten Roman »Segen der Erde« vergab. Die Schwedische Akademie wollte in diesem Idealbild des bäuerlichen Lebens das realistisch gezeichnete »Abbild eines Daseins erkennen, das überall, wo Menschen leben und bauen, die Grundlage der Existenz und der Entwicklung der Gesellschaft kennzeichnet«.
 
 »Segen der Erde«
 
Ein Mann, Isak, lässt sich im norwegischen Ödland nieder. Er beginnt mit einer einfachen Kate und einer Ziege und baut diesen Bauernhof, Sellanraa, Jahr für Jahr aus. Er findet eine Frau und gründet eine Familie. Isak besitzt ein schlichtes Gemüt, aber er handelt bedächtig, stets sicher und mit glücklicher Hand. Zwar gelingt ihm nicht alles auf Anhieb — der Versuch, Weizen anzubauen, scheitert zunächst —, doch Isak lässt sich nicht beirren. Sein Erfolg gründet nicht auf besonderen Fähigkeiten (nur seine Körperkräfte sind beinahe übermenschlich), sondern darauf, dass er nie etwas anderes sein will als Bauer. Als man ihm ein Honorar für die Instandhaltung einer Telegrafenlinie anträgt, lehnt er ab, die Landwirtschaft lässt ihm keine Zeit. Isak bleibt Selbstversorger, der sich nur auf die Erde und seine Arbeitskraft verlässt. Das schützt ihn auch vor Abwegen, als die moderne Welt mit Bergbauindustrie, Landspekulation und Handel ins abgelegene Ödland eindringt — und nach kurzer hektischer Betriebsamkeit wieder verschwindet. Isaks Frau Inger dagegen kommt mit dem städtischen Leben in Berührung, nachdem sie wegen eines Kindsmords zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Sie bringt aus der Stadt einen gewissen Dünkel mit nach Hause, der immer wieder in Erscheinung tritt. Allerdings führt sie ihr treuherziges Gemüt regelmäßig zurück auf den rechten Weg in ihre Rolle als tüchtige Bauersfrau. Anders ergeht es dem ältesten Sohn, der nach einer Ausbildung als Schreiber in der Stadt nie zu einer gefestigten Persönlichkeit findet, sich erfolglos im Handel versucht und schließlich sein Glück in Amerika sucht.
 
Zu den interessantesten Figuren des Romans gehört Geißler, eine zweifelhafte, unstete Existenz. Geißler ist eigentlich ein nervöser Stadtmensch, aber er bewundert die bodenständige Lebensweise auf Sellanraa. Immer wieder taucht er auf, um als Deus ex Machina seine schützende Hand über den Hof zu halten, allerdings halten mit ihm Bergbau und Landspekulation Einzug. Hamsuns Botschaft ist deutlich: Glück und Frieden der Seele erreicht nur der, der den Versuchungen der Moderne widersteht und sich wie Isak fern vom Getriebe der Städte in einer der ältesten und beständigsten Lebensformen einrichtet.
 
 Abneigung gegen die Industriegesellschaft
 
Hamsun verbrachte seine Kindheit im subarktischen Norden Norwegens. Im Alter von neun Jahren begann er für seinen strengen und despotischen Onkel zu arbeiten. Mit 15 Jahren lief er weg und schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch. 18-jährig konnte der Autodidakt dann eine erste literarische Arbeit veröffentlichen, eine Bauerngeschichte. 1878 ging er nach Kristiania (heute Oslo), um sich dort als Journalist zu etablieren. In die 1880er-Jahre fallen zwei Aufenthalte in den USA, die seine Abneigung gegen die moderne Industriegesellschaft, ihren Materialismus und ihre kulturelle Armut bestärkten. Seine Kritik hat Hamsun mit sarkastischer Schärfe formuliert (»Vom Geistesleben des modernen Amerika«, 1889).
 
Mit der Erzählung »Hunger« (1890) konnte Hamsun erstmals die Aufmerksamkeit literarisch interessierter Kreise auf sich ziehen. Das Buch schildert in exakt beobachteten und formulierten Skizzen die seelischen und körperlichen Krisen eines mittellosen und vereinsamten jungen Schriftstellers. Hamsuns Interesse gilt vor allem der Psychologie menschlicher Ausnahmesituationen, während der soziale Hintergrund unberücksichtigt bleibt. Einflüsse Dostojewskis (im Schwanken der Figuren zwischen hochfahrenden Ansprüchen und tiefer Erniedrigung) und Nietzsches (das Übermenschentum des Geistesaristokraten) sind bemerkbar. Hamsuns frühe Helden, so der naturverbundene Vagabund Johan Nagel in »Mysterien« (1892) oder Leutnant Glahn in »Pan« (1894) sind zerrissene Charaktere, die zwar authentische Empfindungen und unsentimentale Naturnähe suchen, zugleich aber von den psychischen Verunsicherungen der modernen Zivilisation geplagt sind.
 
Die destruktive Wut der industriellen Moderne sah Hamsun vor allem in den angelsächsischen Ländern am Werk. Er war davon überzeugt, dass die Demokratisierung des politischen und sozialen Lebens mit einem kulturellen und moralischen Rückschritt der Menschheit einhergeht, und plädierte für eine aristokratisch oder paternalistisch organisierte Gesellschaft und die Rückkehr zum einfachen Leben in Einklang mit der Natur. Nachdem sich Hamsun bereits während des Ersten Weltkriegs auf die Seite Deutschlands geschlagen hatte, zog ihn sein romantischer Konservatismus später auf die Seite des Faschismus. Während der deutschen Besetzung Norwegens rief er offen zur Unterstützung der Besatzer auf. Das brachte ihm nach 1945 einen Prozess wegen Kollaboration ein, der mit dem Entzug seines gesamten Vermögens endete. Das hinderte ihn jedoch nicht an der Abfassung einer Rechtfertigungsschrift (»Auf überwachsenen Pfaden«, 1949), die selbst im Irrtum noch die literarische Könnerschaft des nun 90-jährigen Autors bewies.
 
Mit seinen frühen Romanen war Hamsun zu einem Erfolgsautor geworden, der nicht nur in ganz Europa ein dankbares Publikum gefunden hatte, sondern auch andere Autoren beeinflusste. »Segen der Erde« fand dank der beinahe lyrischen Poesie seiner Sprache, der eindringlichen Charaktere und der packenden Ausführung des Sujets viele Leser. Nach den Verwüstungen des Ersten Weltkriegs waren die Rezeptionsbedingungen für eine friedliche Agrarutopie günstig. Nachdem die politischen Verstrickungen sein Ansehen als Autor zeitweise ruiniert hatten, konnte er bald wieder ein neues Publikum gewinnen und noch lange Zeit als bedeutender Autor von Weltliteratur gelten. Erst nach dem kulturellen und politischen Umschwung der späten 1960er-Jahre schwand das Interesse an Hamsuns Büchern.
 
J. Zwick

Universal-Lexikon. 2012.

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